Im September freue ich mich immer besonders aufs Land. Raus aus der Stadt, rein ins Oderbruch, das so platt ist wie Friesland, wo man jeden Gast angeblich schon über Kilometer hinweg kommen sieht.
Anna Völker
Das Oderbruch ist kleiner, man lebt in ein paar Dörfchen, scheinbar weitab von den Turbulenzen des Alltags.
Man trifft auf Ortsnamen wie Güstebieser Loose, Neulietzegöricke oder Zäckericker Loose. Auch die „Kinder von Golzow“, Hauptdarsteller in der berühmten Langzeitdokumentation, stammen von hier. Fahrradtouristen haben den Reiz der Region längst entdeckt und radeln über die Oderdeiche.
Hier, im Osten Brandenburgs, leben meine Großeltern auf einem alten Bauernhof. Schon als kleines Mädchen habe ich viel Zeit bei ihnen verbracht. Ich spielte mit den Nachbarskindern im Stroh oder mit den Hühnern und Kaninchen.
Doch am liebsten schlich ich mich vom Hof, um die Gegend mit ihren Teichen, Feldern und Wäldern zu erkunden. Und auch jetzt genieße ich jeden Tag in der einfachen, ruhigen Landschaft, die so viel Schönheit zu bieten hat.
Heute geht es zu den Holunderbüschen, die wie aus einer Gießkanne gegossen über der flachen Landschaft verstreut sind. Der schwarze Holunder ist der Bekannteste der Gattung Sambucus, die über 25 Arten zählt und in Mitteleuropa weit verbreitet ist.
Der bis zu sieben Meter hohe, einheimische, winterharte Strauch ist recht anspruchslos und gedeiht daher überall. Mit seinen stark duftenden weißen Blüten und den sommergrünen Blättern ist er ein Hingucker in jedem Garten. » Beerenstark durch den Winter
Ich bin heute hier draußen in den Feldern, um seine schwarzen, glänzenden Beeren zu pflücken. Auch dieses Jahr mache ich aus ihnen Gelee, Sirup oder Likör. Meine Mutter begleitet mich, um mir beim Tragen der Beereneimer zu helfen. Und auch das Wetter passt. Der Wind ist zwar frisch, doch die Sonne des frühen Herbstes wärmt uns noch.
Schon im August sind die ersten Beeren reif, und jetzt, etwas später, sind die Dolden schön schwarz gefärbt. Einen rötlichen Schimmer dürfen sie nicht mehr haben. Das in solchen Früchten noch enthaltene giftige Sambunigrin brauche ich nicht: Auf Bauchweh und Übelkeit kann ich gut verzichten.
Wir schneiden die Dolden samt Stiel und tragen unsere gefüllten Eimer zurück zum Hof. Nachdem ich die Dolden in die alte Emailleschüssel mit Wasser gelegt habe, die sicher meine Urgroßmutter schon zum Holunderwaschen benutzt hat, hole ich den Entsafter aus dem Keller.
Holundern ist bei uns Familientradition: Ich habe die Rezepte von meiner Mutter übernommen, meine Mutter kennt die Techniken von meiner Großmutter, und schon meine Urgroßmutter kochte die Beeren ein, um damit Saucen zu würzen. „Es stand immer eine Schüssel Holundermus in der Speisekammer!“ Mein Großvater schwärmt noch heute davon.
Der Holunder hat nicht nur optisch und geschmacklich viel zu bieten. Seine schweißtreibenden, fiebersenkenden und schleimlösenden Blüten sind heute wieder häufig Bestandteil in Erkältungstees und die Holunderbeeren unterstützen den Körper mit reichlich Vitamin C und A.
Schon die Germanen und Kelten verehrten den Strauch und schrieben ihn der Göttin Holder oder Holla zu, der Beschützerin des Hauses, aus der wohl auch Grimms Märchenfigur Frau Holle abgeleitet wurde.
So ist dem Holunder mit seinen weißen Blüten und schwarzen Beeren wahrscheinlich die Idee für das Märchen entnommen. Als Sinnbild für „Gold und Pech“, „Glück und Leid“, „Tod und Wiedergeburt“.
An der Geschichte mit dem Pech scheint wirklich etwas dran zu sein: Der Saft der schwarzen Beeren färbt so stark, dass er nur schwer wieder aus der Kleidung geht.
Im Entsafter können die Beeren nun köcheln, während ich mit meiner Mutter alles für die nächsten Schritte bereitstelle: Flaschen, Trichter und Töpfe, Zucker, Zimt, Nelken und Zitrone. Sind die Dolden im Entsafter schon etwas zusammengefallen, drücke ich die Früchte ab und an mit einem Quirl zusammen.
So platzen die Beeren, und ich fange auch die letzten Tropfen auf. Den Saft lasse ich in einen großen Topf ab und würze ihn mit Nelken, Zimt und Zitrone.
Heute will ich Sirup machen, also muss noch jede Menge Zucker dazu. Je nach Geschmack etwa ein Kilo Zucker auf einen Liter Saft.
Jedes Jahr entstehen so Gelee, Sirup und Likör. Im Freundeskreis sind schon fast alle auf den Geschmack gekommen, und die frische Ernte wird bereits freudig erwartet.