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Voraussichtliche Lesedauer:  7 Minuten

Gartenstadt zwischen Vision und Wirklichkeit

Luisa Roth
Online-Redakteurin

Das Jahr 1898 in England: Mit fortschreitender Industrialisierung platzen die Großstädte aus allen Nähten, Slums bilden sich, die Luft ist verschmutzt und es gibt wenig Grün. Ein gewisser Sir Ebenezer Howard beschließt, eine Antwort auf die sozialen Missstände zu finden, und entwickelt seine Vision der Gartenstadt – ein Stadtplanungsmodell, das bis heute nachwirkt. Im 21. Jahrhundert ist die Gartenstadt nicht nur ein historisches Phänomen, sondern bleibt ein relevantes Konzept, das im Zuge der Debatten um nachhaltiges Bauen und lebenswerte Umgebungen wieder verstärkt in den Fokus rückt. Doch was genau verbirgt sich eigentlich hinter diesem Begriff? Welche Ideen stecken dahinter? Und gibt es heute noch echte Gartenstädte? In diesem Artikel werfen wir einen Blick auf die Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Gartenstadt.

Entstehungsgeschichte der Gartenstadt

Englands Industriemetropolen des 19. Jahrhunderts schienen förmlich zu explodieren. Die Stadtzentren von London oder auch Manchester verdichteten sich zunehmend. Auch an den Rändern der Städte entstanden immer neue Viertel. Die Wohnverhältnisse waren eng und unhygienisch, während zugleich die Grundstückspreise rapide anstiegen. Der Brite Ebenezer Howard, der als Erfinder der Gartenstadt gilt, war bei einem mehrjährigen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten in den Kontakt mit Stadtplanungskonzepten gekommen – beispielsweise in Chicago, als die Stadt nach einem Großbrand neu aufgebaut wurde.

Ende der 1870er Jahre kehrte er schließlich zurück nach England. Als er sich mit den dort vorherrschenden Lebensbedingungen in den Städten konfrontiert sah, kam ihm die Idee, geplante Siedlungen im umliegenden Agrarland aufzubauen. Besonders grüne Städte – Garden Cities – sollten entstehen, um Stadt- und Landleben harmonisch miteinander zu vereinen. Sein 1898 erschienenes Werk To-morrow – A Peaceful Path to Real Reform (seit 1902 Garden Cities of To-morrow betitelt) verdeutlicht seine Vision einer Stadt, die sich harmonisch in die Natur einfügt, ausreichend Platz für Gärten und Parks bietet und dennoch mit allen Annehmlichkeiten einer modernen Stadt aufwarten kann.

Gesellschaftliche Bedeutung

Howard war nicht nur Stadtplaner, sondern auch Sozialreformer. Er ließ sich von den Sozialutopien des 19. Jahrhunderts inspirieren. Die Gartenstadt war nicht nur als ein Ort zum Wohnen gedacht, es sollte auch eine Genossenschaft entstehen. Bei Howards Ideen spielte unter anderem auch William Morris‘ Roman News from Nowhere eine Rolle – ein mit Science-Fiction-Elementen gespickter Zukunftsentwurf einer sozialistischen Gesellschaft. Morris beschreibt eine Welt, in der es keine Fabriken mehr gibt, Privateigentum und Klassengesellschaft abgeschafft worden sind und die Menschen einer zwanglosen, erfüllenden Arbeit nachgehen können. Dabei leben sie in Einklang mit der Natur. Essenziell für Howards Konzept der Gartenstadt war also der soziale Gedanke. Den teilweise unmenschlichen Bedingungen der Fabrikarbeiter*innen sollte mit der Gartenstadt eine lebenswerte Alternative entgegengestellt werden.

Eine Idee schlägt Wellen … die Gartenstadtbewegung

Ebenezer Howards Veröffentlichung löste nicht wenig später eine regelrechte Welle der Umwälzungen aus. Mit ihm entstand zunächst in Großbritannien die sogenannte Gartenstadtbewegung und die sogenannte Garden City Association gründete sich. Doch die Ansätze erreichten auch schnell das Festland, beinahe ganz Europa verfolgte schließlich ein „Leben im Grünen“ als Idealbild. Auch nach Deutschland drangen diese Impulse bald vor.

Was kennzeichnet eine Gartenstadt?

Schematische Darstellung einer Gartenstadt v. Ebenezer Howard, 1898. Foto: Wikimedia Commons
Ein Diagramm von Sir Ebenezer Howard, veröffentlicht 1902 in Garden Cities of Tomorrow, zeigt dessen Vorstellung von ’slumfreien, smogfreien‘ Städten. [Foto: Wikimedia Commons]

Howard ging es in seinen Entwürfen nicht etwa darum, in eine vorindustrielle Vergangenheit zurückzukehren. Die Garden Cities sollten keine abgeschiedenen Waldsiedlungen oder bäuerliche Dörfer darstellen. Vielmehr waren sie als fortschrittliche Städte konzipiert, als Verschmelzungen von Stadt und Land. Dabei sollte eine Gartenstadt zwar autark funktionieren, jedoch keine isolierte Siedlung darstellen, sondern Teil eines Netzes mit angrenzenden Gartenstädten werden. Howards Garden City ist ringförmig angelegt. Im Zentrum liegt die Kernstadt, um die sich in mehreren Ringen die verschiedenen Wohnviertel und Freiflächen erstrecken. Geschäfte, Dienstleistungen und öffentliche Einrichtungen befinden sich dort. Auch einige der Verkehrswege – Straßen, Schienen und Kanäle – sind ringförmig angelegt. Andere laufen sternförmig auf die Kernstadt zu und verbinden die Stadtteile untereinander. Die Stadt ist von Grünflächen durchzogen. 

Wohn- und Arbeitsstätten sind getrennt, liegen aber auch nahe beieinander, indem die Industrie zwar direkt angrenzt, sich jedoch nicht im Stadtzentrum befindet. Auch die landwirtschaftlichen Flächen, die die Versorgung gewährleisten, sollen nicht weit entfernt sein. Insgesamt ist eine Gartenstadt darauf ausgelegt, eine hohe Lebensqualität für ihre Bewohner*innen zu schaffen. Sie soll nicht nur funktional sein, sondern auch ästhetisch ansprechend gestaltet werden.

Erste reale Umsetzungen

Da die Entwürfe zur Gartenstadt auf fruchtbaren Boden fielen, fanden sich auch rasch finanzielle Unterstützer*innen. Im Sinne der Gartenstadtbewegung realisierte die Garden City Association gleich den Aufbau zweier Gartenstädte. 

1903 entstand die englische Stadt Letchworth Garden City in der Grafschaft Hertfordshire nach Howards Planungen. Indem für den Aufbau zunächst günstiges Ackerland erworben und dieses dann durch die Bebauung im Wert gesteigert wurde, konnte Geld in sogenannte Community Land Trusts fließen. Die planenden Architekten beim Aufbau von Letchworth wichen allerdings von Howards konzentrisch angeordneten Skizzen ab. Stattdessen entstanden eher unregelmäßige Verkehrslinien und Stadtflächen. Eine zweite Gartenstadt wurde mit Welwyn Garden City realisiert – gar nicht weit von Letchworth entfernt.

Gartenstadt: Blick inmitten eine Baumallee, zu beiden Seiten sind Blumenbeet, zentral im Bild eine Steinsäule. Foto: AdobeStock_Nicola
Heute leben in Welwyn Garden City etwa 43.000 Menschen. [Foto: AdobeStock_Nicola]

Gartenstadt heute: Was ist von dem Modell übrig?

Diese ersten beiden Gartenstädte dienten europaweit und sogar international als Vorbilder. Den Beinamen „Gartenstadt“ erhalten allerdings auch heute noch viele Siedlungen oder Stadtviertel, die nur entfernt an Howards Ursprungsidee angelehnt sind. Bis heute ist der Begriff ein gerne verwendete Floskel im Stadtmarketing-Jargon. Obwohl der Begriff Gartenstadt eng mit dem sozialistischen Modell von Ebenezer Howard verbunden ist, wurden die wenigsten stadtarchitektonischen Umsetzungen ganzheitlich an seinem ursprünglichen Konzept ausgerichtet. Oftmals vernachlässigte man die genossenschaftliche Organisierung, und die Gartenstadt wurde zum bloßen Synonym für überdurchschnittlich begrünte Stadtviertel. Echte Gartenstädte sind daher nach wie vor rar.

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Trotzdem lassen sich viele Grundaspekte von Howards Idee in der städtischen Landschaft Europas wiedererkennen, beispielsweise eine offene, weitläufige Bebauung sowie großzügige Grünanlagen. Die Gartenstadtbewegung hat auch maßgeblich zur Entstehung der typisch deutschen Vorstadtidylle beigetragen: Kleine Einfamilien- beziehungsweise Reihenhäuser mit jeweils einem eigenen Gärten erinnern wenigstens entfernt an die Wurzeln der Gartenstadt.

Gibt es eine Gartenstadt in Deutschland?

Deutschland orientierte sich nicht nur in Sachen Industrialisierung an England, sondern auch im Hinblick auf dortige Lösungsansätze für die sozialen Probleme, die diese Veränderungen mit sich brachten. Die Gartenstadtbewegung fand in Deutschland besonders großen Anklang. Bereits im Jahre 1902 hat sich die Deutsche Gartenstadtgesellschaft gegründet, um sich gegen Bodenspekulation und für sozialreformerische Maßnahmen einzusetzen. Nur sieben Jahre später, 1909, entstand dann die erste deutsche Gartenstadt – Hellerau, nördlich von Dresden.

Gartenstadt: ein gelbes Haus in Dresden Hellerau. Vor dem Haus wachsen verschiedene Pflanzen. Foto: AdobeStock_ankenever
Idyllische Häuserzeilen und blühende Vorgärten machen die Siedlung Hellerau bei Dresden aus. [Foto: AdobeStock_ankenevermann]

Hellerau wurde von dem Möbelfabrikanten Karl Schmidt als Wohnstätte für dessen Arbeiter*innen unter genossenschaftlicher Trägerschaft konzipiert. Die Siedlung ist 140 Hektar groß und von bogigen Straßenanordnungen geprägt.

Weitere Beispiele für deutsche Gartenstädte sind neben Hellerau die Gartenstadt Hohenhagen in Hagen, der Stadtteil Gartenstadt Nürnberg, Wandsbek bei Hamburg, die Gartenstadt Karlsruhe-Rüppurr, die Krupp-Siedlung Margarethenhöhe in Essen oder auch die Augsburger Gartenstadt Thelottviertel.

Zukunftausblick: Renaissance der Gartenstadt?

In Deutschland ist das Konzept der Gartenstadt eher als Vorstadt von großen Ballungszentren präsent geblieben, scheint aber dennoch nie in Vergessenheit geraten zu sein. Auch derzeit wird das Prinzip wieder vermehrt im Zusammenhang mit innovativen Stadtplanungskonzepten diskutiert. Eine über 100 Jahre alte Idee könnte also auch heute noch Lösungen für die Herausforderungen der fortschreitenden Urbanisierung bieten. Aktuelle Probleme bestehen vorwiegend beim knapper und teurer werdenden Wohnraum, der Überlastung von Infrastrukturen, dem Mangel an Grünflächen in vielen Großstädten und den sich häufenden Hitzesommern aufgrund klimatischer Veränderungen.

Eine Gartenstadt könnte neue Städte schaffen, die günstigen Wohnraum bieten, soziale Durchmischung fördern und umweltfreundliche Technologien einsetzen. Große, parkähnliche Flächen könnten die allgemeine Lebensqualität steigern und das Mikroklima der Städte verbessern. Allerdings hat die Gartenstadt auch einige Nachteile, allen voran macht der hohe Flächenbedarf die praktische Umsetzung tatsächlicher Stadtneugründungen schwierig. Ob die Gartenstadt tatsächlich eine Renaissance erleben wird, bleibt abzuwarten. Grüne und eigenständig funktionierende Stadtstrukturen sind heute jedenfalls mehr denn je relevant.

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