Es ist eine Jahrhunderte zurückreichende Tradition und künstlerische Ausdrucksform, aber auch eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Mensch und Natur: Ikebana (japanisch 生け花) bedeutet wörtlich übersetzt etwa ‚lebende Blumen‘. Die Prinzipien dieser besonderen Form des Blumenarrangierens sind geprägt von der Wertschätzung für die Schönheit des Unvollkommenen, aber auch von einer strengen Präzision der Proportionen und Linienführung.
Ikebana ist eine Blumensteckkunst – eine eigene Kunstform, die in Japan entwickelt wurde. Ikebana-Arrangements sind einfach und zurückhaltend, meist werden nur wenige einzelne Blumen oder Zweige verwendet. Damit unterscheiden sie sich grundlegend von den ausladenden Blumensträußen, bei denen Blüte um Blüte dicht gedrängt, am besten symmetrisch angeordnet werden. Stattdessen legt Ikebana den Fokus auf die Betonung des Raums zwischen den Elementen und auf die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen im Raum.
Kunst und Garten
Nicht nur die Prinzipien der Floristik, auch die Ideale der europäischen Gartenkultur sind geprägt von Fülle und Üppigkeit. Als seit dem 19. Jahrhundert der Pflanzenraub der europäischen Kolonialmächte explosionsartig zunahm, entstand eine regelrechte Obsession mit neuen, unbekannten Pflanzenarten im Ziergartenbereich. Und bis heute liegen möglichst divers gestaltete Beete voller blühender Prachtstauden, wie sie etwa im typischen Cottagegarten zu finden sind, voll im Trend. Dem entgegen tritt seit jeher die Reduziertheit der ostasiatischen Gartenkultur, die keine bloßen Pflanzensammlungen darstellen, sondern auf die Schönheit realer Landschaften verweisen wollen. Auch im Ikebana lässt sich diese Auffassung wiederfinden.
Obwohl man die Pflanzenteile für die Arrangements von ihren Wurzeln trennt, wird der Akt des Schneidens als eine Art Befreiung der Abhängigkeiten vom Tod begriffen, was die Pflanzen damit erst belebt. Diese Sichtweise stellt einen ästhetischen beziehungsweise philosophischen Grundsatz des Zen-Buddhismus dar, von dem auch das Ikebana stark geprägt ist. Der künstlerische Prozess des Blumensteckens kann sogar meditativen Zuständen nahekommen, bei welchen die subjektive Innenwelt mit dem Außen der Natur in Verbindung gebracht werden soll.
Es geht also um weit mehr als bloße Floristik: Ikebana verbindet ästhetische, philosophische und spirituelle Grundsätze. Einen zentralen Aspekt bildet auch das Mensch-Natur-Verhältnis und die subjektive künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Verhältnis.
Die Ursprünge des Ikebanas reichen mehr als 1.000 Jahre zurück. Als im 6. Jahrhundert der Buddhismus in Japan eingeführt wurde, brachten buddhistische Mönche bereits traditionelle Praktiken des Blumenarrangierens mit. Die Arrangements sollten als religiöse Opfergaben dienen.
Die Heian-Zeit (794–1185) war dann geprägt von den strengen Hierarchien der Aristokratie, aber auch von der reichen Kultur. Künstlerische Ausdrucksformen wie Poesie, Malerei, Musik oder Tanz erlebten eine besondere Blüte. Am Hof spielte Ästhetik eine große Rolle und Ideale wie Anmut, Raffinesse und Bescheidenheit waren hoch geschätzt. Blumengestecke wurden von den männlichen Hofadligen auch zu rein dekorativen Zwecken gefertigt, sodass abseits der religiösen Motive die ästhetische Dimension des Ikebanas an Bedeutung gewann.
Mitte des 15. Jahrhunderts entstand mit der Gründung der Ikenobo-Schule in Kyoto durch die Priesterfamilie Ikenobō sogar die erste Ikebana-Schule. Erstmals wurden auch Grundprinzipien des Ikebana bestimmt und festgehalten. Nach und nach entwickelten sich mit den Ikebana-Schulen auch diverse Stile und Techniken. Mittlerweile existieren mehrere tausend Ikebana-Schulen, die nicht nur traditionelles Wissen bewahren, sondern auch das Ikebana als unabhängige Kunstform dynamisch halten und stetig weiterentwickeln.
Breitere Popularität fand das Ikebana schließlich nochmals während der Endo-Zeit (1603-1868). Erstmals durften auch Frauen und bürgerliche Schichten an der Kunstform teilhaben.
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich das Ikebana beinahe in alle Welt verbreitet und es mischten sich mehr und mehr auch westliche Einflüsse unter die zeitgenössischen Ikebana-Stile. Heute existiert eine breite Palette verschiedenster Stilrichtungen – von traditionellen Philosophien bis hin zu experimentelleren Formen, die mehr Freiheiten und avantgardistische Designs zulassen.
Über die Jahrhunderte hinweg haben sich verschiedene Gestaltungsformen im Ikebana herausgebildet, die sich in ihren Gestaltungsprinzipien und -philosophien unterscheiden. Es gibt traditionellere, strengere Formen wie das Rikka, bei dem hohe technische Präzision verlangt wird. Rikka-Arrangements folgen einem umfangreichen Regelwerk, die unter anderem die Größenverhältnisse, die Kombinationen des Materials und die Wahl der Gefäße betreffen. Die präzise angeordneten Pflanzenteile und ihre Positionen sollen idealisierte Landschaften verkörpern und verweisen damit auf die Natur selbst.
Mit der erhöhten Zugänglichkeit des Ikebanas für breitere Bevölkerungsschichten kamen allmählich auch modernere Formen auf, die mehr Gestaltungsfreiheiten zulassen. Allen voran ist hier Jiyuka zu nennen, die jüngste Stilrichtung. Übersetzt bedeutet Jiyuka soviel wie ‚Freier Stil‘. Diese Form entwickelte sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts und lässt beispielsweise jegliche Materialien und Befestigungsarten zu. Erlaubt sind auch Überraschungen und Ausbrüche aus der Ordnung, raumgreifendere Arrangements und experimentellere Stile. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei immer auf der Wahl des Gefäßes und dessen Form und Farbe.
Die Fülle an Richtlinien und Regeln, die diese Kunstform mit sich bringt, kann zunächst überfordernd wirken. In jedem Fall sind ein ästhetisches Gespür und Achtsamkeit gefragt. Ikebana-Gestecke leben von einer sorgfältig abgewogenen Proportionen und der Linienführung. Während gerade Linien streng und distanziert wirken können, sorgen kurvige Linien für Weichheit und Zartheit. Ein waagrechter Schwerpunkt kreiert Ruhe, während die Senkrechte Dynamik schafft.
Bei der Anordnung beruft man sich in den meisten Ikebana-Formen auf die drei Hauptlinien Shin (真), Soe (副) und Tai (体). Sie repräsentieren Himmel, Menschheit und Erde und sind damit gleichsam eine ästhetische Referenz auf nichts Geringeres als die kosmische Ordnung. Der höchste Teil des Arrangements ist das Shin: Diese Linie sollte am längsten sein. Das Soe, der mittlere Teil, sollte etwa halb so lang sein und die Basis, das Tai wiederum etwa die Hälfte der Länge des Soes besitzen. Zusätzliche Elemente sollen die durch die Hauptlinien kreierte Ordnung stützen.
Ein wichtiges Merkmal von Ikebana liegt auch in der Bedeutung des Ma (間), das den Raum, die Pause oder die Leere bezeichnet. Für ein ausgewogenes Arrangement ist nicht nur das organische Material als solches von Bedeutung, sondern auch das Dazwischen, die bewussten Leerstellen, die das Gesamtwerk erst in Balance bringen. Der Negativraum verleiht zugleich Tiefe und Räumlichkeit.
Raum und Zeit im Ikebana
Die Vergänglichkeit dieser Kunstwerke verleiht ihnen neben der räumlichen Anordnung eine zeitliche Dimension: Ganz wie die Natur selbst ist das Arrangement nicht konservierbar. Die natürlichen Veränderungsprozesse bis hin zum Ableben sind jederzeit sichtbar.
Meist werden für ein Arrangement nur wenige und ausgewählte Materialien verwendet – Blumen, Zweige von Koniferen oder Laubgehölzen mit Blüten, Knospen oder Früchten, gelegentlich auch Wurzelteile. Beim historischen Ikebana beziehungsweise den traditionell orientierten Stilrichtungen kommen vorwiegend in Japan heimische Pflanzenarten wie Bambus, Kiefer, Chrysanthemen oder Kirschbäume zum Einsatz. Sowohl die kulturelle Bedeutung der Pflanzenart als auch Saisonalität spielen eine wichtige Rolle. Moderne Formen des Ikebanas erlauben auch Blätter oder Totholz, sogar nicht-pflanzliches Material wie Steine oder künstliche Metall oder Plastikelemente sind erlaubt.
Pflanzenmaterial, eine hochwertige und geschärfte Schere, ein Pflanzengefäße und Hilfsmittel zur Befestigung benötigt man für Ikebana. Als Pflanzgefäße werden Keramikvasen oder Ikebana-Schalen genutzt. Als Zusatz für die Vase eignen sich Lochplatten, die die Pflanzenteilen an Ort und Stelle halten sollen. Essenzielles Utensil für die flachen Schalen ist der sogenannte Kenzan: Dabei handelt es sich um eine schwere Metallplatte, auf der stabile Messingnadeln angebracht sind. Weiche Blütenstiele, aber auch holzige Zweige können so fixiert werden.
Die Schale wird meist so gewählt, dass der Kenzan darin unsichtbar bleibt. Wasser wird nur wenig benötigt – wenige Zentimeter, sodass der Kenzan bedeckt ist, genügen. Ikebana-Lehrende betonen die Wichtigkeit des Materiales und das Einlassen auf individuelle Wuchsformen und Eigenarten. Statt die Pflanzen in Perfektion pressen zu wollen, werden ihre individuellen Qualitäten und die darin liegende Schönheit hervorgehoben.
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