Schon lange wachsen Salomonssiegel in unserem Garten. Inzwischen sind es große Horste. Da entdeckte ich eines Tages im Juni nie zuvor gesehene, kleine, graue Raupen an den Blattspitzen. Naturschutz beseelt hofften wir, dass sich aus ihnen ein auf Salomonssiegel spezialisierter, vielleicht sehr seltener Schmetterling entwickeln würde.
Ach, da irrten wir sehr! Drei Jahre später fraßen schon Hunderte dieser schön aussehenden Winzlinge unsere Salomonssiegel kahl, immer von den Triebspitzen aus. Am Ende standen nur noch Gerippe da! Was nun? Zunächst stellten wir fest: Es handelte sich nicht um die Raupen eines Schmetterlings, sondern um die sogenannten Afterraupen der Salomonssiegel-Blattwespe. Die Wespe selbst ist klein, schwarz und unauffällig. Im Mai legt sie ihre Eier ab, aus denen sich die gefräßigen Räupchen entwickeln. Wir mussten handeln. Unsere Taktik: Ablesen bzw. befallene Triebspitzen abschneiden. Heute haben wir die Raupen im Griff. Es war also nichts mit dem seltenen Schmetterling!
Dafür haben wir wieder Freude an den Salomonssiegeln. Sie wird nur getrübt durch das Etikett Giftpflanze, das ihm einige Übervorsichtige anheften. Die wissen vielleicht gar nicht nicht, dass die millionenfach verkauften Weihnachtssterne, ebenso Alpenveilchen und der Waldmeister Giftpflanzen auf gleicher Stufe sind. Zugegeben: Die Pflanze enthält in allen Teilen, besonders aber in den Beeren, u. a. Saponine, die tatsächlich leichte Vergiftungssymptome auslösen können.
Demnächst starte ich ihre Vermehrung über Wurzelschnittlinge. Ich hoffe, dass sich im nächsten Jahr zahlreiche junge Pflanzen entwickeln. Dann wollen wir sie taufen.
Bei mir wachsen sie fast überall, im Schatten, halbsonnig und gelegentlich sogar an sonnigen Standorten. Trockenheit kann ihnen nichts anhaben. Das zeigt ein Kragen aus Salomonssiegeln am Fuß unserer Birken. Dort wächst die vitalste mir bekannte Art, das Vielblütige Salomonssiegel (Polygonatum multiflorum), in sehr trockenem und dichtem Wurzelfilz. Seine Blütenglocken und später auch die blauen Beeren bilden eine anmutige Kette an den weit überhängenden Stängeln. Aus den Samen entsteht üppiger Nachwuchs. Bis Meterhöhe erreicht bei mir das Zweiblütige Salomonssiegel, Polygonatum biflorum. Es ist mir das liebste, schon weil sich seit meiner Kinderzeit ein hübscher Name mit ihm verbindet: Maiglöckchen unterm Dach. Wie passend! Sämlinge sind bei ihm selten und mit seiner Größe ist es der richtige Nachbar für Astilben, Silberkerzen, Schattengräser, Funkien und Farne.
Nur 20 cm hoch, mit großen cremefarbenen Blüten, wächst aus dünnen Rhizomen das Zwerg-Salomonssiegel, Polygonatum humile. Es hat bei mir den Spitznamen „Die Soldaten“, so stramm stehen die fast senkrechten Triebe im Beet. Aber gegen die Schnecken ist es leider wehrlos. Die anderen Arten werden von den Rasplern kaum belästigt. Ganz selten ist in meinem Garten die Quirlblättrige Weißwurz (Polygonatum verticillatum) – vielleicht, weil sie einen kühlen, schattigen und nicht zu trockenen Standort wünscht. Haben Sie jetzt auch Lust auf die Glöckchen mit dem Regenschirm? Ich wünsche Ihnen einen kräftigen Horst davon.
Wenn das Sonnenlicht schräg durch die Blätter auf die Glöckchenblüten des Salomonssiegels unterm Dach fällt, verlieren vielleicht auch Sie Ihr Herz.
Dr. Konrad Näser